Sonntag, 5. November 2006

Der Professor und seine Ministerin (I): Trennung von Wissenschaft und Glaube

Die Fakten

Der Kulturkanal ARTE hat am 19.9.2006 eine Sendung zum christlichen Fundamentalismus in Europa ausgestrahlt. Dort wurde unter anderem gezeigt, dass im Biologieunterricht zweier Schulen in Gießen bei der Behandlung der Evolutionstheorie die christliche Schöpfungslehre als alternative Lehre diskutiert wurde (Spiegel). Das Gießener Schulamt leitete daraufhin Untersuchungen ein, die am 10.10.2006 abgeschlossen wurden. Im Ergebnis dieser Untersuchungen sagte einer der betroffener Lehrer zu, missverständliche Äußerungen zu Glaubensfragen in Zukunft zu unterlassen. Jedoch wurde bestätigt, dass die Auseinandersetzung mit religiösen oder philosophischen Fragen im Biologieunterricht ausdrücklich erwünscht ist (hr).

Die hessische Kultusministerin Karin Wolff, eine ehemalige evangelische Religionslehrerin, kommentierte diese Vorgänge mit der Aussage, dass christliche Schöpfungsvorstellungen auch im Biologieunterricht behandelt werden sollen und dass es zulässig sein müsse, die Evolutionstheorie in Frage zu stellen.

Diese Äußerungen veranlassten Ulrich Kutschera, Professor an der Universität Kassel und Vizepräsident des Verbands der Deutschen Biologen, im Verein mit einigen Kollegen die Ministerin in einem offenen Brief zu kritisieren. Er plädiert darin für eine strikte Trennung von naturwissenschaftlichem und weltanschaulichem Unterricht, „weil sonst kaum kontrolliert werden kann, wann“ Auseinandersetzung mit weltschaulichen Inhalten in Indoktrination umschlägt. Die zuständigen Aufsichtsbehörden müssen diese Trennung sicherstellen. Weltanschauliche Aspekte gehören in den Religions- und Philosophieunterricht. Biologielehrer sind dazu nicht qualifiziert. Der naturwissenschaftliche Fachunterricht habe das gesicherte Wissen unserer Zeit zu lehren und die notwendigen Prinzipien wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung zu vermitteln.

Die Kritik

Es ist Aufgabe der Schule, Heranwachsende zu selbständigen Menschen zu erziehen, die sich und die Welt, in die sie hineinwachsen, mit Verständnis erfassen und mit Zuneigung umfassen können und in der Lage sind, nach Maßgabe der Ziele, die sie sich setzen werden, zu wirken. Jeder Unterricht, auch der biologische Fachunterricht, muss sich diesem Ziel unterordnen. Bei jeder pädagogischen Maßnahme muss gefragt werden: Was bewirkt sie am heranwachsenden Menschen? Bringt sie ihn dem Ziel der Reife als freier Menschen näher?

Ulrich Kutschera stellt diese Frage nicht. Er stellt sich nur die Frage: Welche Gefahren ergeben sich bei Verbindung von biologischem Fachunterricht mit Weltanschauungsfragen? Er sieht die Gefahr der Indoktrination und lehnt deshalb diese Verbindung ab.

Kutscheras Argumentation würde in dem Augenblick hinfällig, in dem sich herausstellt, dass es zur Erreichung des Erziehungsziels notwendig ist, die natürliche Evolution im Unterricht in Verbindung mit Fragen der Weltanschauung und Religion zu behandeln.

Bei der Behandlung der natürlichen Evolution im Biologieunterricht stellt sich jeder gesund empfindende Jugendliche die folgende Frage: „Ich erlebe mich innerlich als Seele und Geist. Äußerlich – so wird es mir nun erzählt und so scheinen die Tatsachen zu sprechen – stamme ich als natürliches Wesen aus einer langen Reihe natürlicher Entwicklung. Meine seelische und geistige Herkunft kann ich ebensowenig leugnen wie meine natürliche. Beide sind Tatsachen. Aber beide scheinen sich zu widersprechen. Wie kann ich beide so denken, dass sich der Widerspruch auflöst?“

Diese Frage stellt sich dem Heranwachsenden, auch wenn sie kein Schüler so formulieren könnte. Nur wenige Schüler werden überhaupt in der Lage sein, eine in die genannte Richtung gehende Frage zu formulieren und in den Unterricht einzubringen. Es ist deshalb die Aufgabe des Lehrers, die latent vorhandene aber nicht ausgesprochene Frage aufzugreifen und für die Schüler zu formulieren. Und dann gemeinsam mit den Schülern zumindest einige Schritte zu ihrer Beantwortung zu gehen. Dadurch lernen die Schüler, mit ihren eigenen Fragen umzugehen. Dadurch lernen die Schüler, sich auch dann in der Welt zurechtzufinden, wenn kein Lehrer dabei ist, der ihnen helfen kann. Dadurch machen sie einen Schritt in Richtung Selbständigkeit und Freiheit.

Wenn der Lehrer jedoch verzichtet, die latent vorhandene Frage aufzugreifen, und die Evolutionstheorie lediglich „als gesichertes Wissen unserer Zeit lehrt“, tritt zweierlei auf: Einerseits verlieren die Schüler die Achtung vor dem Lehrer und die Möglichkeit, von ihm in Zukunft zu lernen. „Der erzählt uns irgend etwas, auf unsere eigentlichen Fragen geht er aber nicht ein.“, entsteht als Empfindung in den Seelen der Schüler. Andererseits verlieren die Schüler die Achtung vor sich selbst und ihrer Möglichkeit, durch einen an ihre Fragen sich anschließenden Erkenntnisweg zu Antworten zu gelangen. „Ich hatte da eine Frage, die scheint aber nicht wichtig zu sein, etwas ganz anderes scheint viel wichtiger zu sein als das, was mir als Frage entstanden ist.“

Die Schüler werden so zugleich zu Expertenglauben und zu Expertenverachtung erzogen.

Der Lehrer muss also, wenn er seine Aufgabe ernst nimmt, die Schüler von der natürlichen Evolution auf das weltanschauliche Gebiet führen. Er muss dabei aber bei der Wahrheit bleiben. Darin hat Kutschera sicher recht, dass die weltanschauliche Fragestellung nicht zur Indoktrination durch den Lehrer führen darf. Wenn der Lehrer aber zumindest sein eigenes Ringen mit diesen Fragen vorstellt, dann gibt er den Schülern die Kraft, ihre eigenen Fragen ernst zu nehmen und sie später zu Antworten, die vielleicht ganz andere sein mögen, als die des Lehrers, zu führen.

Das Resümee

Das Vorgehen, das Kutschera aus Gründen der wissenschaftlichen Objektivität als das richtige behauptet, die Trennung von Wissenschaft und Weltanschauung bei der Behandlung der natürlichen Evolution im Unterricht, hat sich aus pädagogischen Gründen als verfehlt erwiesen. Kutschera macht der Ministerin Wolff den harten Vorwurf: „Sie sollte sich zunächst orientieren und ein Fachbuch lesen.“ Nun spricht er aber über ein Gebiet, in dem die ehemalige Lehrerin Wolff mehr Erfahrung hat, als er selbst: das der Erziehung junger heranwachsender Menschen. Der Vorwurf mangelnder Fachkompetenz, den er der Ministerin macht, wendet sich gegen ihn selbst.

Kutscheras Ziel ist zweifelos berechtigt: Religiöser und weltanschaulicher Glaube soll nicht den objektiven Blick auf die natürlichen Tatsachen trüben. Die Naturwissenschaften müssen aus sich selbst heraus beurteilt werden, nicht aufgrund von Weltanschauung oder Religion. So berechtigt sein Ziel ist, so falsch ist jedoch die Konsequenz, die er für die Unterrichtung heranwachsender Menschen daraus zieht. Naturwissenschaftlicher Unterricht und weltanschauliche Fragestellung dürfen nicht getrennt werden, wenn die Seelen der jungen Menschen durch den Unterricht gefördert werden sollen.

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